2) Disziplin über Bord werfen
Disziplin ist dabei wichtig, aber nicht ganz so wichtig wie Freude. Wenn ich einen Text beginne, frage ich mich als allererstes: Warum will ich mich überhaupt davor drücken? Das will ich nämlich eigentlich immer. Dabei war als Kind das Schreiben für mich selbstverständlich von Freude und spontanen Einfällen geprägt. Vor kurzem fand ich tief vergraben in einer Kiste unter meinem Bett meine allererste Geschichte, die ich mit neun Jahren geschrieben hatte. Einen Literaturnobelpreis hätte sie nicht verdient und doch war ich überrascht, als ich sie erneut las. Sie hatte Konflikt, Zuspitzung, Krise, Wende und sogar ein Ende – alles, was mir viele Jahre später in Schreibkursen beigebracht wurde, wie der Aufbau einer Geschichte funktioniere.
Als erwachsener Mensch musste ich mich bewusst entscheiden, die Disziplin über Bord zu werfen und die rechte fühlend-kreative Gehirnhälfte wirken zu lassen. Am besten schreibe ich am frühen Morgen. Die täglichen Erwartungen sind auf Eis gelegt und die Stressfaktoren für die linke Gehirnhälfte damit gering. Weniger gehemmt und ein bisschen verträumt komme ich so leicht in den Flow.
3) Vorsätzlich einen schlechten Text schreiben
Es ist früh am Morgen und meine äußere Umwelt gut organisiert, aber trotzdem hält mich etwas davon ab loszuschreiben. Das leere Blatt schaut mich wie eine Kampfansage an. Ich trete den Rückzug an und prokrastiniere, indem ich mir erstmal ein paar Tiktok-Videos anschaue. In meinem Feed erzählt ein Musikdozent von einer Aufgabe, die er seinen Studierenden gestellt hat: Schreibt den denkbar schlechtesten Song, den ihr schreiben könnt. Das gefällt mir und ich lege das Handy weg. Ich nehme mir vor, mich selbst auszutricksen, so wie der Musikdozent seine Kursteilnehmenden. Sie waren bei dieser Aufgabe nämlich nicht mehr damit beschäftigt waren, sich zu vergleichen und den Reichtum ihrer Fähigkeiten beweisen zu wollen. Stattdessen konzentrierten sich die Studierenden auf ihre besten Fähigkeiten und setzen diese spielerisch ein. Das Ergebnis war, dass jede:r in der nächsten Unterrichtsstunde ihren oder seinen besten Song präsentierte.
Weshalb aber braucht es einen solchen Trick? Dafür gibt es eine wissenschaftliche Erklärung, die auch mit der Funktionsweise des Gehirns zu tun hat. Zunächst ignoriert das menschliche Gehirn als erstes, worin es am besten ist, um sich auf drängendere Probleme konzentrieren zu können. Außerdem lernen Menschen, indem sie andere Menschen kopieren, was den Vergleich mit anderen auch so nützlich macht. Beim Schreiben eines Songs oder Texts steht mir diese Biologie jedoch im Weg. Also weg damit! Ich fange also an, den denkbar schlechtesten Text zu schreiben.
4) Deadline nicht einhalten
Es hat funktioniert und der Text ist geschrieben. Es ist an der Zeit meine innere Kritikerin hervorzuholen und die geschriebenen Worte mit der linken Gehirnhälfte auf Logik zu prüfen. Ich passe an, korrigiere und überarbeite. Allzu große Gedankensprünge sind getilgt, aber das gewisse etwas fehlt trotzdem noch. Was mich rettet ist, ist die Voraussicht, mit der ich meine Deadline vor der eigentlichen Deadline gesetzt habe. In dieser Zwischenzeit erlaube ich mir, den fast fertigen Text ruhen zu lassen, einen offenen Geist zu bewahren und weiter nach Ideen zu suchen, um zu einer umfassenderen Perspektive zu gelangen.
Denn kreativer Fortschritt im Kern ist geprägt von diesem Widerstand gegen den Impuls, schnell zu einer Lösung zu gelangen. Dies zeigt zum Beispiel der Schaffensprozess des Films „Toy Story“. Pixar hat dabei versucht, die Regeln des Animationsfilms komplett neu zu schreiben und ist ein ganzes Jahr lang daran gescheitert. Im TED-Talk erzählt Filmemacher Andrew Stanton, wie er in dieser Zeit den Rat bekam, genau die Elemente in den Film zu integrieren, auf die er gerade verzichten wollte: Songs, „Ich will“-Momente, ein fröhliches Dorf, eine Liebesgeschichte und nicht einmal einen Bösewicht sollte es geben. Am Ende hörte Stanton auf keinen dieser Ratschläge und „Toy Story“ wurde einer der erfolgreichsten Filme aller Zeiten. Langsamkeit ist also keineswegs zu verwechseln mit Unproduktivität. Und eine Deadline hinauszuzögern ist oft das Beste, was einer Geschichte passieren kann. Im Idealfall handelt es sich um die eigene Deadline.
Klicken Sie auf den unteren Button, um den Inhalt von embed.ted.com zu laden.
Inhalt laden
Posted By
Alexandra Reinig
Categories
Brand Storytelling, Content Marketing, PR, Rhetorik