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Ein Fuß jeweils auf einer Seite der Grenze symbolisiert den Grenzübertritt in der Raumsemantik.

© Nadine Shaabana / unsplash

Jeder, der sich auch nur ansatzweise mit Storytelling befasst, kennt die Heldenreise: Eine Anleitung, die über mehrere Stationen beschreibt, wie man verlässlich zum Helden oder zur Heldin wird. Die archetypische Story-Struktur findet nicht nur in Hollywood-Blockbustern Anwendung, sondern genauso im modernen Marketing. Ein hingegen weniger bekanntes Modell, um sich Geschichten zu nähern, ist das der semantischen Räume, welches auf den russischen Literaturwissenschaftler Juri Lotman zurückgeht. Im Vergleich zur Heldenreise ist es weniger spezifisch, was in manchen Situationen gewisse Vorzüge mit sich bringt.  

Raumse-was?

Grundlegend ist die Semantik die Lehre von der Bedeutung. Die Raumsemantik beschäftigt sich dementsprechend mit der Bedeutung, die Räumen zugewiesen wird. Dass wir räumliche Begriffe oft mit nicht-räumlichen Konzepten verknüpfen, zeigt sich bereits in allgemeinen Redewendungen: Als „unterste Schublade“ bezeichnen wir nicht nur den tiefsten Stauraum eines Möbelstücks, sondern treffen damit ein Werturteil über etwas. Die obere Gesellschaftsschicht muss nicht zwangsweise hoch über dem Meeresspiegel wohnen und wer hinter dem Mond lebt, tut das meistens nicht wortwörtlich.

Raumordnung in Erzählungen

Zu einer Aufladung von Räumen mit zusätzlicher Bedeutung kommt es auch in Geschichten. So ist Mordor in „Der Herr der Ringe“ nicht nur ein karges Ödland, sondern wird zusammen mit Sauron zum Inbegriff des Bösen. Die komplett gegenteiligen Eigenschaften – nicht nur in Hinblick auf Flora und Fauna, sondern auch semantisch – besitzt das Auenland, das für das Gute steht. Somit kann Mordor als Gegenraum zum Auenland verstanden werden.

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In Erzählungen spielen Räume eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Protagonist:innen und für das Fortschreiten der Geschichte an sich. In vielen Fällen ist eine Heldenreise eben genau das – eine Reise. Daran, ob eine Grenze zwischen zwei Räumen überschritten wird, bemisst sich in der Theorie der Raumsemantik nach Lotman auch, ob in einem Text überhaupt ein Ereignis vorliegt oder nicht. Plakativ gesagt: Keine Grenzüberschreitung, keine Story.

Dafür ist es allerdings irrelevant, ob eine physische Grenze überschritten wird oder nicht. Und das ist der Kern und die Stärke des raumsemantischen Modells: Es ist entscheidend, ob ein Charakter die Schwelle zwischen zwei abstrakt-semantischen Räumen überschreitet, damit ein Ereignis entsteht.

Ein abstrakt-semantischer Raum ist beispielsweise der „Raum“ der „Legalität“, also eines gesetzestreuen Lebens. Sein Gegenpart ist logischerweise der Raum der Kriminalität, dessen Grenze beispielsweise der von Leonardo DiCaprio gespielte Charakter, Frank Abagnale, in dem Film „Catch me, if you can“ überschreitet und zu einem talentierten Scheckbetrüger wird. Hätte sich die Hauptfigur Frank immer brav ans Gesetz gehalten, gäbe es keine Geschichte.

Warum spricht man bei Legalität und Kriminalität von Räumen, obwohl es abstrakte Begriffe sind? Weil sie eben das haben, was Lotman als entscheidendes Kriterium für einen Raum sah: eine Grenze. Allerdings ist nicht jeder Charakter in einer Story dazu in der Lage, die jeweilige Barriere zu überschreiten. Nur die „beweglichen“ Charaktere können das – potenzielles Heldenmaterial.

Extrempunkte – Überaus anziehend

Übertritt ein Charakter eine Grenze zu einem Raum, so führt ihn sein Pfad unweigerlich zu dem Punkt, wo dessen Eigenschaften am stärksten verdichtet sind. Dieser Ort wird Extrempunkt genannt und ist gleichzeitig auch ein Schicksalspunkt für den Helden. In der Filmreihe „Der Hobbit“ lässt sich der passend genannte Schicksalsberg leicht als Extrempunkt identifizieren. Neos Reise in „Matrix“ führt ihn schlussendlich in die Stadt der Maschinen und Hänsel und Gretel gelangen im Wald zum Hexenhaus – dem Ort der größten Gefahr. Ein Extrempunkt muss aber nicht unbedingt ein Ort sein.

Ein markanter Berggipfel symbolisiert hier den Extrempunkt eines semantischen Raumes.
© klausdie / pixabay

Ein Extrempunkt kann ein herausragender Ort sein – oder eine Person, in der sich die Eigenschaften des Raumes am stärksten verdichten.

Ordnung muss sein – Die Ereignistilgung

Bei einem Grenzübertritt kommt es zu einem Ereignis, weil ein Element des einen Raumes in seinen semantischen Gegenraum eintritt, wo es logischerweise einen Fremdkörper darstellt. Dadurch ist Reibung vorprogrammiert. Das Konsistenzprinzip besagt, dass die Kräfte in einer Geschichte danach streben, diese Inkonsistenz zu beseitigen und die ursprüngliche Ordnung der Welt wiederherzustellen. Damit eine Geschichte endet, muss die Reibung beseitigt, das ursprüngliche Ereignis „getilgt“ werden. Hier gibt es verschiedene Varianten.

Eine Möglichkeit ist, dass der Held oder die Heldin in den Ausgangsraum zurückkehrt, wie zum Beispiel Bilbo Beutlin in „Der Hobbit“, nachdem das Abenteuer überstanden ist. Entsprechend dem „Beuteholerschema“ bringt der/die Held:in manchmal etwas aus dem Gegenraum mit in seinen Ausgangsraum, wie ein Objekt, eine Fähigkeit oder eine Person.

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, dass Held oder Heldin ein Teil des Gegenraums wird und dort verbleibt. So wird Tristan in dem Film „Der Sternwanderer“ zum König der magischen Welt gekrönt und ist fortan ihr zuzuordnen.

Die letzte Form der Ereignistilgung ist die Metatilgung, bei der es zu einer Veränderung der Welt kommt, die dazu führt, dass die Grenze zwischen den semantischen Räumen verschwindet. Das passiert zum Beispiel in der Geschichte von „Die Schöne und das Biest“, wo am Ende der Fluch des verwunschenen Schlosses gebrochen wird und sich der Prinz und die darin befindlichen Bewohner:innen zurückverwandeln.

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Die Ordnung der Welt wird durch eine Ereignistilgung wiederhergestellt.

Praktischer Nutzen

Die raumsemantische Analyse ist eine hervorragende Methode, um zum Kern von Geschichten vorzudringen. Das gilt natürlich nicht nur für Literatur und Film, sondern für jede Art von Kommunikation, wie zum Beispiel für Werbespots. In einer Werbung für ein Reinigungsmittel stehen sich die zwei semantischen Räume „Sauberkeit“ und „Verschmutzung“ unversöhnlich gegenüber. Ein Ereignis liegt dann vor, wenn der Lieblingspulli plötzlich ein Erdbeersirup-Schandmal aufweist und vom abstrakten Raum „sauber“ in den Raum „schmutzig“ übergeht.

Die Raumsemantik eignet sich jedoch nicht nur zur Analyse von bereits vorhandenem Material, sondern sie ist – so wie die Heldenreise – auch bei der Produktion von neuem Material von Nutzen. Mit ihrer Hilfe kann man eine grundlegende Strukturierung der zu vermittelnden Botschaft vornehmen und die Frage beantworten: Worin liegt der Grenzübertritt? Was ist das Besondere?

Fazit zur Raumsemantik

Wer das Modell der Heldenreise bereits kannte, wird sicherlich einige Gemeinsamkeiten festgestellt haben. Hier die Schwelle, da der Grenzübertritt. Hier die Prüfung des Helden in der tiefsten Höhle, da die Extrempunktregel. Die geringere Komplexität des raumsemantischen Modells erlaubt es jedoch, Storys und die grundlegenden Konzepte, die in ihr verhandelt werden, schnell zu erfassen. Außerdem lässt es sich prinzipiell auf jede Geschichte anwenden, auch auf solche, die nicht dem klassischen Schema der Heldenreise folgen. Die verschiedenen Möglichkeiten der Ereignistilgung bieten zudem eine interessante Ergänzung zur Heldenreise und es lohnt sich in jedem Fall, beide Modelle in seiner Storytelling-Toolbox zu haben.