Geschichten als Fadenspiele: Die wechselseitige Beziehung zwischen Storytelling und Kunst
“Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat” – was Aristoteles bereits im Jahre 223 v. Chr. in seinem Werk “Poetik” festhält, definiert bis heute, was eine Geschichte formt. Seitdem haben Philosoph:innen, Künstler:innen und nicht zuletzt Geschichtenerzähler:innen immer weitergedacht, was es heißt, eine gute Story zu erzählen. Sich die wechselseitige Verbindung einmal genauer anzuschauen, gibt einen spannenden Einblick, was Storytelling von der Kunst und Kunst vom Storytelling lernen kann, um ihre Ausdrucksformen gegenseitig zu bereichern.
In der philosophischen Welt von Joseph Beuys liegt der Keim der Veränderung in der schöpferischen Fähigkeit eines jeden Menschen. Beuys proklamiert, dass Menschen bereits im Nachdenken beginnen, ihre schöpferische Fähigkeit einzusetzen und dabei das Selbst und die Umwelt mitzugestalten. Gerade diese Fähigkeit macht jeden Menschen, so Joseph Beuys, zu einer oder einem Kunstschaffenden. Er betrachtet Gesellschaft nicht als festes Gebilde, sondern als sogenannte soziale Plastik, die veränderbar ist.
Jeder Mensch ist ein Künstler.
Joseph Beuys
Die Fähigkeit zur Veränderung liegt in der Verantwortung eines jeden Menschen. Doch es bedarf einer bewussten Entscheidung, wie diese Kreativität kanalisiert wird. Die schöpferische Fähigkeit, sei es bei politischer Aktionskunst oder dem Erzählen von Geschichten, sollte nicht gegen die Menschen gerichtet sein, sondern für sie arbeiten – sowohl auf individueller als auch auf kollektiver Ebene.
Hier kommt Joseph Campbell ins Spiel, der wie Beuys in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gewirkt und verändert hat, wie wir über die künstlerische Schöpfungskraft denken. Campbells Modell der Heldenreise gilt als eines der einflussreichsten und strukturgebenden Werkzeuge im Storytelling, wie etwa auch in der Musik.
Er zeigt auf, wie sich im Kern jede Geschichte darum dreht, dass die gewohnte Welt verlassen wird und zum Wohle aller, vieler oder auch nur einer einzelnen Person etliche Prüfungen bestanden werden müssen. Campbells Ideen beeinflussten damit nicht nur den Filmemacher George Lucas bei der Entwicklung seiner Star-Wars-Saga, sondern prägen heute auch das Storytelling von Unternehmen, die Veränderungen (und sogar Krisen) erzählerisch kommunizieren – stets motiviert von der Vision einer besseren Welt oder eines persönlichen Erfolgs. Mithilfe von Storytelling kann die Ungewissheit in einen klaren roten Faden der zukünftigen Unternehmensgeschichte gewandelt werden. Denn durch die Geschichte, die wir über die Veränderung erzählen, schaffen wir sowohl eine intellektuelle als auch emotionale Verbindung mit den Informationen.
Dieser Grundgedanke kann umgekehrt wieder Eingang in die Kunst finden. Das ist besonders in der Kunstvermittlung der Fall, etwa beim Storytelling im Museum. Doch auch die verschiedenen Kunstformen selbst können viel gewinnen, indem sie die Struktur, Zielgruppenansprache und emotionale Verbindung des Storytellings nutzen.
Struktur und roter Faden: Storytelling bringt eine klare Struktur in die Art und Weise, wie Geschichten erzählt werden. Die Kunst kann sich dieser Struktur als Stilmittel bedienen, um bestimmte Botschaften und Ideen effektiver zu vermitteln und die Möglichkeiten zu erweitern, mit der Wirkung eines Kunstwerks zu spielen.
Zielgruppenansprache: Im Storytelling verlässt ein:e Held:in die gewohnte Welt und tritt eine Reise an – manchmal sogar im wortwörtlichen Sinne. Dies ermöglicht, dass sich auch Zielgruppen, für die die Welt der Kunst eine ungewohnte ist, in kreative Werke hineinversetzen können. Für die Kunstvermittlung ist dies ebenso bedeutend wie für Werke, die in Reichweite und Bedeutung ihren traditionellen Wirkungskreis verlassen sollen.
Emotionale Verbindung: Gute Geschichten schaffen eine starke emotionale Verbindung zu Zuschauer:innen. Die Kunst kann diese emotionale Verbindung nutzen, um tiefe Gefühle und Gedanken bei Betrachter:innen hervorzurufen. Durch das Erzählen einer Geschichte in einem Kunstwerk kann die emotionale Wirkung bestimmter Aspekte gezielt intensiviert werden.
Storytelling kann bestimmten Kunstformen sogar dazu dienen, die Grenzen ihres Genres zu sprengen. Auf dem Berlin Circus Festival präsentierte 2023 etwa der Artist Monki in seiner Performance “60 percent Banana” Data Storytelling inspiriert von Hans Rosling und kombinierte dabei kunstvolle Zirkuselemente mit einer enthusiastischen Reflektion von Daten zur globalen Entwicklung.
Das Publikum war begeistert von der Performance, die sich deutlich abhob von der Repräsentation der Realität, die wir für gewöhnlich in den Medien erleben, wo Kriege, Konflikte und Katastrophen den höchsten Nachrichtenwert besitzen.
Was kann das Storytelling aus der Kunst lernen?
Es ist von Gewicht, welche Geschichten Welten machen und welche Welten Geschichten machen.
Donna Haraway
Erzählende Kunst und Kunstvermittlung nutzen die Kraft des Storytellings, aber ebenso fordert die Kunst immer wieder heraus, wie wir unsere Geschichte erzählen. Sehr deutlich wird das in den Gedanken der visionären Sci-Fi- und Fantasy-Autorin Ursula K. Le Guin, welche in ihrer „Tragetaschentheorie“ (aus ihrem 1986 entworfenen Essay engl. “The Carrier Bag Theory of Fiction”) die Verbindung zwischen Kreativität, Kunst und Veränderung auf faszinierende Weise neu betrachtet. Le Guin zeigt auf, dass evolutionäres Mensch-Werden sowie heutiges Mensch-Sein gern anhand von spitzen, gefährlichen Gegenständen erzählt wird, mit denen Helden (seltener Heldinnen) töten und erobern: Ein simples Beispiel aus Star Wars ist hier das Laser-Schwert.
Dabei könnten und sollten wir die Weltgestaltung anhand von mehr Werkzeugen erzählen – etwa anhand von Gefäßen oder Tragetaschen, die es möglich machen, Dinge aufzubewahren, mitzunehmen und zu beschützen. Sie repräsentieren eine andere Sichtweise auf das Menschsein – eine, die nicht auf Zerstörung und Eroberung ausgerichtet ist, sondern auf das Behüten und das Miteinander. LeGuin nutzt dieses Motiv in ihren Erzählungen. Auch in Harry Potter besitzt Hermine Granger eine kleine, perlenverzierte Handtasche, die sie mit einem unaufspürbaren Ausdehnungszauber belegt, so dass alle notwendigen Besitztümer, die die Freunde während der Jagd nach Horkruxen benötigen, dort hineinpassen.
Die US-amerikanische Philosophin und Feministin Donna Haraway erweitert LeGuins Tragetaschentheorie um das Bild der Fadenspiele, sogenannter “string figures”. Sie betont, wie Geschichten – sei es in literarischer oder künstlerischer Form – eine essenzielle Funktion erfüllen: nämlich, die Welt zu erklären! Haraway hebt hervor, dass nicht nur die Art und Weise, wie Geschichten erzählt werden, wichtig ist, sondern auch, welche Geschichten überhaupt erzählt werden.
Ihr Modell kann beschrieben werden „als eine Art und Weise, Denken als sympoietisches Verheddern, Verfilzen, Verwirren, Nachspüren und Sortieren mit zahlreichen Gefährt:innen zu betreiben“. Indem Geschichten als Fäden in einem komplexen Gewebe der Ideen, Erfahrungen und Perspektiven betrachtet werden, wird ihre Bedeutung als Werkzeug zur Formung von Welten klar. Geschichten sind nicht nur passive Erzählungen, sondern kreative Akte, die das kollektive Nachdenken anregen und eine Plattform für kollektives Storytellings bieten. Insofern kann es sinnvoll für Erzähler:innen sein, vom roten Faden abzuweichen, um die vielfältigen Gefäße besser erkennen zu können, in die eine Geschichte gegossen werden kann.
Das zeigt, Storytelling kann ebenfalls wertvolle Lektionen aus der Welt der Kunst ziehen, um seine Erzählungen zu bereichern und zu vertiefen:
Vielschichtigkeit und Interpretation: Kunstwerke sind oft offen für vielfältige Interpretationen. Das Storytelling kann von dieser Offenheit lernen und eine tiefere Dimension der Vielschichtigkeit in seinen Erzählungen einführen. Durch das Zulassen unterschiedlicher Interpretationen können Geschichten reicher und individueller werden.
Ästhetik und Symbolik: Kunst zeichnet sich oft durch ihre Ästhetik und Symbolik aus. Das Storytelling kann lernen, wie visuelle Elemente und Symbolik in Geschichten integriert werden können, um tiefere Bedeutungsschichten zu schaffen. Dies kann die Wahrnehmung und die Wirkung von Geschichten steigern.
Ausdruck und Experiment: Überraschende Wendungen, das Spiel mit den Publikumserwartungen oder beim Spannungsaufbau – Künstler:innen nutzen oft unkonventionelle Ansätze, um ihre Ideen auszudrücken. Das Storytelling kann sich von dieser Experimentierfreudigkeit inspirieren lassen und neue Erzählformen entwickeln, die fesselnde Wege bieten, um Geschichten zu erzählen.
Vielfältige Strings bieten sich an, zu dem roten Faden zu werden, anhand dessen der oder die Storyteller eine Geschichte erzählt. Nicht nur der neue Barbie-Film lenkt den Fokus auf eine Heldin – und weicht damit von der klassischen Heldenreise nach Campbell ab. Auch die Werbung macht sich die überraschende Abweichung von der vom Publikum erwarteten männlichen Heldengeschichte zunutze, wie der Clip zur Fußballweltmeisterschaft der Frauen 2023 eindrucksvoll zeigt:
Fazit: Kunst und Storytelling – Eine wirkungsmächtige Symbiose
Insgesamt zeigt die Beziehung zwischen Kunst und Storytelling, dass beide Bereiche voneinander lernen können, um ihre jeweiligen Ausdrucksformen zu bereichern. Die klare Struktur des Storytellings kann in der Kunst als Stilmittel eingesetzt werden, um Botschaften effektiver zu vermitteln und die Wirkung von Kunstwerken zu verstärken. Die fesselnde Heldenreise im Storytelling ermöglicht es, verschiedene Zielgruppen in kreative Werke einzubeziehen, die sonst vielleicht keinen Zugang zur Kunst gefunden hätten. Gleichzeitig schaffen gute Geschichten in beiden Bereichen eine starke emotionale Verbindung, sei es zwischen Zuschauer:innen und Kunstwerk oder zwischen Leser:innen und Erzählung.
Darüber hinaus kann das Storytelling durch die Kunst lernen, Vielschichtigkeit, Ästhetik und Experimentierfreude in seine Erzählungen einzubringen, um so das ganze Potenzial von Geschichten zu entfalten, die Gesellschaft – oder in den Worten von Beuys – die soziale Plastik zu verändern. Dafür ist nicht nur wichtig, wie Geschichten erzählt werden, sondern auch, welche Geschichten überhaupt erzählt werden.
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